Ende der Bonner Republik? Der Berlin-Beschluss 1991 und sein zeithistorischer Kontext Teil 2

Ende der Bonner Republik? Der Berlin-Beschluss 1991 und sein zeithistorischer Kontext Teil 2

Organisatoren
Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e. V. (KGParl); Institut „Moderne im Rheinland“, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Forschungsverbund „Bonner Republik“, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Landschaftsverband Rheinland (LVR); Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Bad Honnef-Rhöndorf
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.11.2021 - 13.11.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Lennart Schmidt, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V. (KGParl)

1991 kulminierten in der Debatte darüber, wo Parlament und Regierung verortet sein sollten, verschiedene Geschichts-, Gegenwarts- und Zukunftsdeutungen des wiedervereinigten und zugleich nach Orientierung suchenden deutschen Nationalstaats. Diese Übergangsphase sowohl politikgeschichtlich als auch kulturwissenschaftlich zu erschließen war das Ziel einer interdisziplinären Doppeltagung über den Berlin-Beschluss des Deutschen Bundestages, deren zweiter Teil im November 2021 im LandesMuseum in Bonn stattfand. Nachdem der erste Teil der Konferenz vor allem Parlamentsdebatte, Hauptstadtbilder sowie Parlamentsarchitektur des Reichstagsgebäudes diskutiert hatte1, vertiefte der zweite der Teil der Konferenz weitere Aspekte der Hauptstadtdebatte. Dazu zählten die Meinungsbildung in den verschiedenen Parteien und Parlamentsfraktionen sowie eine Analyse der Übergangsphase von der Bonner in die Berliner Republik.

Die Tagung begann mit einem Blick auf die CDU/CSU als damals größter Fraktion, die zugleich Kanzler und Regierung stützte. Allerdings waren sich die Unionsabgeordneten über die Frage Bonn oder Berlin alles andere als einig, wie BENEDIKT WINTGENS (Berlin) zeigte. Während die einen den Berlin-Umzug als Symbol der Einheit befürworteten und die Union dabei als diejenige Partei verstanden, die sich immer für die Wiedervereinigung eingesetzt hatte, befürchteten andere, dass mit einem Abschied von Bonn die Westbindung in Frage gestellt und die Bundesrepublik weniger föderal und insgesamt „östlicher“ werden könnte. Nach langen Debatten und Wochen der Kompromisssuche stimmte schließlich eine knappe Mehrheit der CDU/CSU für einen Verbleib in Bonn, eine große Minderheit für den Umzug nach Berlin.

Im zweiten Vortrag analysierte WOLFGANG SCHMIDT (Berlin) die innerparteiliche Debatte der SPD und hob dabei die regionale Zugehörigkeit der Abgeordneten als zentralen Faktor für ihr Abstimmungsverhalten hervor. Ein Großteil der Fraktion stammte aus dem sozialdemokratisch regierten Nordrhein-Westfalen und befürchtete einen Abbau der Infrastruktur am Rhein, als zusätzlicher Belastung zum Strukturwandel im Ruhrgebiet. Vor diesem Hintergrund fand der Berlin-Umzug von Parlament und Regierung auch in der zweitgrößten Bundestagsfraktion keine Mehrheit. Neben der Sorge vor zu viel Zentralismus spielte in der SPD zudem die Erwartung eine Rolle, dass „herkömmliche“ nationale Hauptstädte im Zuge der sich supranational organisierenden europäischen Integration an Bedeutung verlieren würden.

Im Kontrast dazu beleuchtete JÜRGEN FRÖLICH (Gummersbach) den Entscheidungsfindungsprozess innerhalb der FDP-Fraktion, die sich mit breiter Zwei-Drittel-Mehrheit für Berlin aussprach. Im Unterschied zu SPD und CDU/CSU war der jeweilige Regionalbezug bei den Abgeordneten der FDP nicht entscheidend, zumal die FDP nicht an den Landesregierungen von Berlin oder Nordrhein-Westfalen beteiligt war. Selbst aus den westlichen Parteiverbänden NRW und Rheinland-Pfalz ging knapp die Hälfte der liberalen Stimmen nach Berlin.

THORSTEN HOLZHAUSER (Stuttgart) präsentierte mit der PDS die einzige Partei, deren Abgeordnete fast geschlossen für Berlin als „echte“ Hauptstadt mit Parlament und Regierung stimmten. Doch war dies nicht der einzige Unterschied zu den anderen bundesrepublikanischen Parteien. Die PDS befand sich darüber hinaus in einer strategischen Findungsphase, ob sie als ostdeutsche Fundamentalopposition gegen die konkrete Praxis der Wiedervereinigungspolitik protestieren wollte oder stattdessen sozialistische Reformversuche unternehmen sollte. In beiden Fällen verstand die PDS einen Umzug des politischen Betriebs von Bonn nach Berlin als Zeichen dafür, dass in Folge der Wiedervereinigung auch westdeutsche Besitzstände in Frage gestellt werden sollten.

Zwei ganz unterschiedliche Traditionen zeigte schließlich FLORIAN SCHIKOWSKI (Potsdam) mit Blick auf Bündnis 90/Grüne, die freilich erst 1993 zu einer gemeinsamen Partei fusionierten. Die Grünen waren aus der Umwelt-, Frauen- und Protestbewegung der alten Bundesrepublik entstanden und hatten insofern ein spezifisch westdeutsch-postnationales Profil und Sorgen vor einem „neuen Nationalismus“ infolge der Wiedervereinigung. Da die Grünen bei der Bundestagswahl 1990 an der Fünfprozenthürde scheiterten, spielten sie jedoch für das Abstimmungsverhalten im Parlament keine Rolle. Demgegenüber hatten die ostdeutschen Bürgerrechtler, die über die Wahlliste von Bündnis 90 in den Bundestag gewählt worden waren, teils enge biographische Verbindungen nach Berlin. Als nicht ganz ernst gemeint charakterisierte Schikowski den Vorschlag, anstelle von Bonn oder Berlin Bitterfeld zur deutschen Hauptstadt zu machen, schließlich sei Bitterfeld zum einen der geographische Mittelpunkt Deutschlands, zum anderen die dreckigste Stadt Europas. Mit einer solchen Hauptstadt könne niemand mehr die Umweltverschmutzung ignorieren.

Um den historischen Ort der Bonner Republik ging es anschließend in Bad Honnef-Rhöndorf im ehemaligen Wohnhaus Konrad Adenauers, das heute Museum, Archiv und Gedenkstätte der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer Haus ist. Nach einer Führung durch das Wohnhaus akzentuierte HOLGER LÖTTEL (Rhöndorf) anhand verschiedener Exponate aus dem Archiv den ersten Bundeskanzler nicht nur als prominenten Rheinländer, sondern zugleich als Preußen, als Kölner Oberbürgermeister und Politiker der Weimarer Republik. Anschließend reflektierte CORINNA FRANZ (Rhöndorf) die Folgen des Wechsels des Parlaments- und Regierungssitzes für die Stiftung sowie die Veränderungen der kollektiven Erinnerung an die Bonner Republik im generationellen Wandel.

Der zweite Tag der Tagung war mehreren Aspekten des Übergangs von Bonn nach Berlin gewidmet. Zunächst verglich CHRISTOF BAIER (Düsseldorf) die raum- und landschaftsarchitektonischen Baukonzepte der Regierungsviertel am Rhein und an der Spree – mit dem markanten Unterschied, dass die Spree einer von mehreren Faktoren des Berliner Regierungsviertels ist, während der Rhein jede Gestaltungsidee für Bonn dominierte. Zugleich zeigte Baier, dass mehrere Bonner Hauptstadtplanungen aus den 1980er-Jahren Jahren in die Neugestaltung von Berlins Mitte eingeflossen sind, wo Weite, Offenheit und demokratische Öffentlichkeit großer Wert beigemessen wurde.

Im Anschluss untersuchte TOBIAS KAISER (Berlin) Kontinuitäten und Unterschiede zwischen der „Bannmeile“ in Bonn und dem „befriedeten Bezirk“ in Berlin. Damit verwies Kaiser auf die deutsche Besonderheit der Bannmeile, die nur vereinzelt in anderen Ländern existiere und die in Berlin, genauer: in der Weimarer Republik „erfunden“ worden war. Als nach dem Berlin-Umzug von Parlament und Regierung mit rot-grüner Mehrheit das Bannmeilengesetz geändert wurde, wurden Offenheit und Zugänglichkeit stärker gewichtet als Schutz und Sicherheit. Wie Kaiser zeigte, hatte sich dieser Wandel aber bereits in Bonn abgezeichnet, als sich in den 1970er- und 1980er-Jahren Verständnis, Praxis und Rechtsprechung in Bezug auf die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit veränderten.

Aus literaturwissenschaftlicher und kulturgeographischer Perspektive ging JASMIN GRANDE (Düsseldorf) auf Verschieberfahrungen nach dem Hauptstadtbeschluss insbesondere in Romanen ein. Während in den Feuilletons über Berlin- oder Wende-Romane diskutiert wurde, schienen Bonn oder die Bonner Republik lange literarisch nicht existent zu sein. Inzwischen allerdings entwerfen mehrere literarische Werke unter dem Stichwort „BRD Noir“ ein teilweise nostalgisches, teilweise düsteres Erinnerungsbild der westdeutschen Provinz. Insbesondere am Beispiel von Judith Kuckarts „Kaiserstraße“ erläuterte Grande den Wert von Chronologie und Topographie bei der Konstruktion literarischer Erinnerungen an die Bonner Republik.

ULLI SEEGERS (Düsseldorf) beschäftigte sich mit den Veränderungen des deutschen Kunstmarkts nach der Wiedervereinigung unter besonderer Berücksichtigung der Bonner Galerie Klein. Nach den Boomjahren in Düsseldorf, Köln und sogar Bonn habe 1991 zunächst „Katerstimmung“ geherrscht in der Erwartung, nun werde die Kunstszene nach Berlin abziehen. 30 Jahre später falle die Bilanz demgegenüber differenzierter aus: So machten Galerien und Messen wie die Art Cologne das Rheinland weiterhin zu einem Zentrum für Kunst und Kunstmarkt, zumal in Berlin das Sammlerpotential fehle. Vor allem aber sei der Kunstmarkt durch die dezentralisierenden Effekte des Internets grundlegend umgestaltet worden.

Individualisierung, Pluralisierung und Entgrenzung waren auch die Entwicklungstendenzen, mit denen OLAF JANDURA (Düsseldorf) aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht die Unterschiede zwischen Bonner und Berliner Republik zusammenfasste. Jandura konstatierte eine Erosion des in Bonn etablierten Ensembles zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit – und eine Vervielfältigung sowohl der Akteure, Medien und Inhalte als auch der Kommunikations- und Rezeptionsgewohnheiten. Wie beim Kunstmarkt waren dabei technische und ökonomische Veränderungen durch Internet und Globalisierung von größerer Bedeutung als der Hauptstadtumzug selbst, und etwa beim Privatfernsehen begannen einige dieser Entwicklungen bereits in der Bonner Republik der 1980er-Jahre.

Ob und wie Historiker die Hauptstadtdebatte, die nicht zuletzt mit historischen Argumenten geführt wurde, begleitet haben, stand im Mittelpunkt des Vortrags von ANDREAS SCHULZ (Berlin / Frankfurt am Main). Wie Schulz feststellte, wurden Stimmen aus der ostdeutschen Geschichtswissenschaft kaum gehört und waren Historikerinnen genauso wenig beteiligt – mit Ausnahme von Helga Schultz. Stattdessen meldeten sich Vertreter der „goldenen Generation“ der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft zu Wort, die etwa zwischen 1930 und 1945 Geborenen. Dabei spiegelten ihre Kommentare, die vor allem im Feuilleton der „Zeit“ sowie der „FAZ“ gedruckt wurden, durchaus auch die Vorurteile der westdeutschen Eliten gegenüber der DDR und „dem Osten“. Zugleich stand das Fach noch stark unter dem Eindruck des Historikerstreits der 1980er-Jahre, weshalb sich eine neue geschichtspolitische Debatte nicht recht entwickeln wollte.

Schließlich analysierte EVA MUSTER (Erlangen) die Darstellungen von Bonn, Berlin und der deutschen Hauptstadtfrage in historischen Museen und Ausstellungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Dabei zeigte sie, dass in westdeutschen Ausstellungen die Bonner Republik zum einen als modern, zum andern als abendländisch/westlich inszeniert wurde und insofern das bundesrepublikanische Selbstbild transportiert wurde. Berlin rückte erst ab dem Ende der 1960er-Jahre wieder stärker in den musealen Fokus und wurde als Kultur- und Wissenschaftsstadt sowie als Ort der kulturellen Vielfalt dargestellt. Auch mit den Verbrechen des Nationalsozialismus setzten sich Museen und Ausstellungen in Berlin auseinander, nach dem Mauerfall zudem mit der Geschichte von Teilung und der Verfolgung in der DDR.

In der mit einem Impuls von DOMINIK GEPPERT (Potsdam) eingeleiteten Abschlussdiskussion wurden die verschiedenen Erkenntnisse und fachdisziplinären Aspekte weiter vertieft. Deutlich wurde dabei, dass die Frage Bonn oder Berlin sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit ein ausgesprochen westdeutscher Diskurs gewesen ist. Paradoxerweise wurde aber in eben diesem westdeutschen Kontext der „Abschied von der Bonner Republik“ nicht bewusst reflektiert, sondern indirekt mitverhandelt. Insofern erscheint der „Umzug“ als Medium oder Projektionsfläche von weit darüberhinausgehenden Transformationsprozessen, die durchaus mit Kategorien einer Nationalstaatsgründung beschrieben werden können. Aufschlussreich erscheint es daher, die Veränderungsdynamiken der Phase zwischen 1989/90 und 1988/99 – dem Datum des materiellen Umzugs – weiter zu untersuchen.

Konferenzübersicht:

Eröffnung und Einführung: Georg Mölich (Bonn)

Panel 1: Bonn oder Berlin? Meinungsbildung und Argumente in Fraktionen und Parteien

Benedikt Wintgens (Berlin): Zwischen Westbindung und Wiedervereinigung. Die CDU/CSU und die Bonn-Berlin-Debatte

Wolfgang Schmidt (Berlin): Von der Berlin-Partei zur postnationalen Partei? Die SPD und die Bonn-Berlin-Debatte

Jürgen Frölich (Gummersbach): Letzter Triumph des „Nationalliberalismus“? Die FDP und die Bonn-Berlin-Debatte

Thorsten Holzhauser (Stuttgart): Anschluss oder Vereinigung? Die PDS und die Bonn-Berlin-Debatte

Florian Schikowski (Potsdam): Bündnis 90/Grüne und die Bonn-Berlin-Debatte

Panel 2: Rückblick, Ausblick, Überblick: Der historische Ort der Bonner Republik

Holger Löttel (Rhöndorf): Konrad Adenauer: Kölner, Rheinländer, Preuße. Eine Spurensuche im Archiv

Corinna Franz (Rhöndorf): Das Adenauerhaus als Erinnerungsort der Bonner Demokratiegeschichte

Panel 3: Zwischen Bonn und Berlin: Konzepte, Passagen, Dynamiken

Christof Baier (Köln): Hauptstadtgrün. Städtebauliche und landschaftsarchitektonische Konzepte beim Ausbau der Regierungsviertel in Bonn und Berlin im Vergleich

Tobias Kaiser (Berlin): Sicherheit in Bonn — Offenheit in Berlin? Grundsatzdiskussionen und praktische Probleme von Bannmeile und „befriedetem Bezirk“ um die Parlamentsgebäude

Jasmin Grande (Düsseldorf): Literatur im Kontext regionaler Verschiebeerfahrungen. Zur literarischen Konstruktion der „Bonner“ und der „Berliner“ Republik

Ulli Seegers (Düsseldorf): Nach Berlin und wieder zurück? Zur Veränderung des
deutschen Kunstmarkts in den 1990er Jahren

Olaf Jandura (Düsseldorf): „Bonn“ und „Berlin“ als Metaphern für die
Veränderung der politischen Kommunikation

Andreas Schulz (Berlin/Frankfurt am Main): Historiker im Hauptstadtstreit

Eva Muster (Erlangen): Musealisierung von Hauptstadtverständnis. Perspektiven
auf Bonn und Berlin in Museen und Ausstellungen

Bonn, was bleibt? Bilanz und Abschluss der Tagung

Anmerkung:
1 Tagungsbericht: Ende der Bonner Republik? Der Berlin-Beschluss 1991 und sein zeithistorischer Kontext, 24.06.2021 – 25.06.2021 digital (Berlin), in: H-Soz-Kult, 14.08.2021, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9021>


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